90 Minuten kämpfen für 150.000 Euro

Es ist Samstag kurz vor halb eins. Über dem Wersestadion im westfälischen Ahlen strahlt die Sonne. Die Regionalliga-Spieler von Rot Weiss Ahlen (RWA) und der SG Wattenscheid 09 (SGW) stehen im Spielertunnel des Stadions bereit. Gleich beginnt für beide Mannschaften das wichtigste Spiel des Jahres – das Finale im Westfalenpokal. Es ist das letzte entscheidende Qualifikationsspiel für den Einzug in die erste Runde des DFB-Pokals. Neben einem sportlichen Highlight in der kommenden Spielzeit geht es für die beiden, finanziell klammen Viertligisten auch um Geld, viel Geld. Genau genommen geht es um Prämiengelder im Wert von 150.000 Euro. Für einen Regionalligisten entspricht das in etwa einem Drittel des Saison-Etats.

Wie wichtig diese Einnahmen für ihre Arbeitgeber sind, haben die Spieler beider Teams in den vergangenen Wochen am eigenen Leib erfahren müssen. Tage, teilweise Wochen, durften sie auf ausstehende Gehaltszahlungen warten. Rot Weiss Ahlen befindet sich schon seit über fünf Jahren in der Insolvenz. Doch jetzt, als die 22 Spieler auf dem Rasen einlaufen, spielen diese Geschehnisse und Probleme der Vergangenheit keine Rolle. Jetzt stehen beide Teams im Fokus der 3008 Zuschauer im Stadion und den durchschnittlich 530.000 Zuschauern vor den TV-Bildschirmen. Eine Öffentlichkeit, die beide Mannschaften aus dem Liga-Alltag in der Regionalliga West nicht gewohnt sind. Auf dem Weg zum Mittelkreis laufen die Spieler am Pokal vorbei. Für diesen Moment mussten beide Mannschaften fünf Qualifikationsspiele erfolgreich gestalten. Mindestens 90 Minuten trennen eines dieser beiden Teams jetzt noch von ihrem Glück – den Griff zu der silbernen Trophäe.

Die Fans auf den Rängen sind bereit. Beide Fangruppierungen empfangen ihre Mannschaften mit Choreographien. Der Gästeblock ist in ein schwarz-weißes Fahnenmeer gehüllt. Ein großer Banner mit der Aufschrift „SCHWARZ UND WEISS IN RUNDE 1“ ziert den Zaun des Gästeblocks. Auf der gegenüberliegenden Seite, dem Fanblock der Ahlener, zieht Rauch auf. Bengalische Lichter werden gezündet. Rauchbomben hüllen das Stadion in einen rot-weißen Nebel. „ALWAYS MOVING FORWARD“ ist auf dem Banner der RWA-Fans zu lesen. Nach dem Regionalliga-Aufstieg im vergangenen Jahr hat Rot Weiss Ahlen als einziger Aufsteiger eine Woche zuvor erst den Klassenerhalt geschafft. Im Westfalenpokal soll die erfolgreiche Regionalliga-Saison jetzt gekrönt werden.

Der Geruch der Feuerwerkskörper zieht durch das gesamte Stadion. Erst nachdem der Rauch im Stadion schwindet, kann das Spiel beginnen. Die SGW erwischt dabei einen Start nach Maß. Ausgerechnet Güngör Kaya bringt in seinem letzten Spiel für die SG Wattenscheid die Gäste nach sechs Minuten in Führung. Nach einer Kopfballverlängerung nimmt Kaya den Ball aus gut 18 Metern volley. Vom Innenpfosten landet der Ball schließlich im Tor. Es steht 1:0 für die Gäste. Kayas Jubel kennt keine Grenzen. Er läuft zielstrebig in Richtung Trainerbank und geht schließlich in einer Jubeltraube unter. Keine 15 Zeigerumdrehungen später können die Gäste schon wieder jubeln. Erneut führt ein Distanzschuss das Team von Farat Toku zu seinem Glück. Dieses Mal nimmt Jan-Steffen Meier aus knapp 25 Metern Maß und trifft mit einem Flachschuss ins linke untere Ecke. RWA-Keeper Sören Stauder kommt für diesen Ball zu spät. „Zwei Sonntagsschüsse am Samstag – die muss man so erst einmal erwischen“, kommentiert Ahlen-Coach Andree Kruphölter nach dem Spiel. Die 1500 angereisten Fans  aus Wattenscheid können ihr Glück kaum fassen. „Oh, wie ist das schön“, schallt es von den Rängen.

Erst im zweiten Abschnitt finden die Gastgeber besser ins Spiel. Richtig gefährlich vor dem Wattenscheider Tor wird es aber nur selten. „Wenn in diesem Abschnitt der Anschlusstreffer fällt, dann hätte es auf dem Platz noch einmal lichterloh gebrannt“, ist sich Ahlen-Trainer Kruphölter sicher. Stattdessen sorgt Mario Klinger in den letzten Sekunden des Spiels endgültig für die Entscheidung – das 3:0 für Wattenscheid. Der Jubel kennt keine Grenzen mehr. Die Fans im Gästeblock klettern auf den Zaun. Und auch auf der Wattenscheider-Reservebank hält es keinen Spieler mehr auf seinem Platz.

Der Westfalenpokal ist gewonnen. Wattenscheid-Trainer Farat Toku fasst sein Glück in Worte: „Ich glaube, es gibt Momente im Fußball, die möchte man nicht missen. Eigentlich sollte man aufhören, wenn es am schönsten ist. Das ist gerade so ein Moment. Ich glaube, den hat Wattenscheid schon seit Jahren nicht gehabt. Auf diesen Moment hat der Verein gewartet.“ Für die meisten Spieler auf dem Platz war es das letzte Spiel für ihren jeweiligen Verein. Sowohl Rot Weiss Ahlen als auch die SG Wattenscheid stehen vor einem Neuanfang, auch bedingt durch ihre finanzielle Situation. „Ich habe meinen Jungs vor dem Spiel gesagt, dass ich mir sie noch einmal ansehen möchte, wenn sie fröhlich sind, wenn sie stolz sein können auf das, was sie geleistet haben. Dieser Moment gerade ist sehr schön, auch wenn er etwas traurig ist. Mir tut es Leid für Rot Weiss Ahlen. Ich glaube beide Vereine brauchen die erste DFB-Pokal-Hauptrunde. Wir sind die Glücklichen heute. Vielleicht ist es das nächste Mal anders“, sagt der SGW-Coach.

Während die Wattenscheid-Kicker bei der Siegerehrung für den Zweitplatzierten Spalier stehen, nehmen die Ahlen-Spieler enttäuscht ihre Auszeichnung entgegen. „Den heutigen Tag hatte ich mir anders vorgestellt“, sagt Ahlens Torwarttrainer Klaus Kühn. „Wir waren heute von Anfang an nicht richtig in den Zweikämpfen. Heute war das zu wenig“, erklärt RWA-Defensivmann Rouven Meschede. Die Spieler der SG Wattenscheid positionieren sich für die Pokalübergabe. Für die SGW nimmt Torhüter Edin Sancaktar die Trophäe entgegen. Er streckt sie in die Höhe. „Champion, Champion, olé, olé, olé“, singt die Mannschaft hüpfend im Chor, während sie für das Siegerfoto posiert. „Für diesen Moment haben wir anderthalb Jahre gearbeitet“, schwärmt SGW-Trainer Farat Toku. Harte Arbeit, die sich jetzt auch auf dem Bankkonto des Vereins bemerkbar macht. Für die Kaderplanung der kommenden Saison stehen jetzt zusätzliche 150.000 Euro zur Verfügung.

Freude auf der einen Seite, Enttäuschung auf der anderen: Während die Trainer nach dem Spiel auf der Pressekonferenz über das Finale sprechen, sind Sirenen von Polizeiautos zu vernehmen. Vor dem Stadion versuchen die Ahlener Fans, die Wattenscheider zu attackieren. Die Polizei kann rechtzeitig einschreiten und eine Schlägerei verhindern. Ruhe kehrt erst ein, als die zwölf Wattenscheider-Fanbusse abfahren. Was bleibt, ist der Frust der Ahlener Fans. Ihre Mannschaft hat verloren. Nicht nur ein Spiel, sondern auch eine Menge Geld. Geld, auf das ihr in der Insolvenz steckender Verein eigentlich nicht verzichten konnte.

Michael Bieckmann Verfasst von

– selbständiger Fotograf mit einer Liebe zum Schreiben –